Semiramide, La Signora regale
Anna Bonitatibus: Was für
ein schöner Name. Und
keineswegs ein «Nom de
scène». Bonitatibus sei ein
süditalienischer Name aus
der Basilicata, erklärt die
Sängerin, der seine lateinische
Endung bewahrt habe - nicht wie
bei den de Bonis und anderen verwandten
Geschlechtern, die sich im Lauf der Zeit
italianisierten.
Anna Bonitatibus kommt aus Potenza,
noch immer lebt sie zeitweise in Italien, in
Mailand, meist aber in London. In Italien,
sagt sie bedauernd, trete sie viel zu selten
auf: weil die Italiener einerseits völlig chaotisch
und stets im letzten Moment planten,
aber auch wegen der desolaten kulturellen
Situation im Land. «Die Theater zahlen die
Zeche für die desaströse Kulturpolitik der
vergangenen Jahre. Dabei hat bei uns doch
alles begonnen!» Von einer Wiege der Kultur
und insbesondere der Opernmusik habe sich
das Land deprimierend weit entfernt, hält
Anna Bonitatibus fest. Lebhaft und charmant
holt sie aus im Gespräch - und dies immer
vor einem weit aufgespannten kulturellen
Hintergrund. Die Römer kannten den Begriff
des «poeta doctus», des «gelehrten Künstlers»,
der sich nicht nur für sein Fach, sondem
darüber hinaus für Kultur interessierte
- Anna Bonitatibus wäre eine «poetria
docta». Ihre Interessen gehen weit über die
Partie hinaus, die sie gerade singt. Bildende
Kunst, Literatur, Theater, Gesellschaftspolitik
sind Themen im Gespräch.
Köstliche Trouvaillen
Auch ihr jüngstes Konzept-Album zeugt
von diesem Horizont: zwei CD, die sich ausschliesslich
der Figur der Semiramis widmen.
Ganz verschiedene Ausprägungen
gaben die Komponisten der babylonischen
Königin, die sich, erklärt das so umfang- wie
kenntnisreiche Booklet, auf dem Thron aus
Gründen der Staatsräson nicht als «Königin»
bezeichnete, sondern als «königliche Dame»
- «La Signora Regale». So heisst das Album
(erschienen bei der deutschen Harmonia
Mundi/ Sony). Zu finden sind darauf Arien
und Szenen aus Opern bekannter Komponisten
wie Gioachino Rossini, dessen «Semiramide»
noch gelegentlich aufgeführt wird,
Antonio Caldara, Nicola Porpora oder zuletzt
Giacomo Meyerbeer, aber auch Trouvaillen
von vergessenen Komponisten wie Andrea
Bernasconi, Francesco Bianchi oder Sebastiano
Nasolini. Eine babylonische Stilpalette.
Feinhörig und facettenreich begleitet das
Barockensemble Accademia degli Astrusi
unter Federico Ferri jede Phrase anders, da
lebt auch ein schwächeres Stück auf.
Anna Bonitatibus hat Fassungen zutage
gefördert, die zum Teil noch nie zur Aufführung
kamen; fast alle Stücke sind Ersteinspielungen.
Semiramis ist für sie eine Figur,
die auch in heutigen Augen interessant sein
kann: «Ich weiss nicht, ob ich sie verstehe,
aber für mich ist sie letztlich vor allem eins:
eine Frau, und wie alle Frauen muss sie
kämpfen für ihre Ideen, für ihre Familie, für
die Dinge, an die sie zutiefst glaubt.» Viel,
glaubt die Sängerin, sei zu entdecken an
Semiramis. «Alle Komponisten geben ihr ein
eigenes Gesicht», der mütterlichen, mörderischen,
taumelnden, reuigen Frau mit vielen
Schatten. Das will sie zum Sprechen bringen.
Anna Bonitatibus ist im Belcanto zu Hause,
der historischen Epoche des «Canto fiorito»
zwischen Barock und früher Romantik. Für
ihren dunklen, vollen, aber agilen Mezzosopran
ist das Repertoire ideal. Sie spielt alle
Register aus, zeigt sich einmal von der samtenen
und schnurrenden Seite, dann temperamentvoll
aufgeraut oder mit einem aufreizenden
Vibrato. Sie gilt als eine der führenden
Rossini-Sängerinnen unserer Zeit; in
Zürich konnte man sie auch schon als Dorabella
in Mozarts «Cosi fan tutte» erleben.
In der Musik wohnen
Ihr Debüt gab sie 1994 am Teatro Filarmonico
di Verona mit Vivaldis «Bajazet», ganz
barock. Heute umfasst ihr Repertoire an die
50 Partien von Claudio Monteverdi bis
Richard Strauss, mit einem klaren Schwerpunkt
im 18. und frühen 19. Jahrhundert.
«Das ist nicht immer eine Wahl. Als junge
Sängerin ergreift man die Angebote, die man
bekommt, und später ist man schnell festgelegt»,
erläutert sie. Und sie gibt eine verblüffende
Antwort auf die Frage, was denn
eine Lieblingspartie sein könnte: «La Voix
humaine» von Francis Poulenc und Jean
Cocteau. Gerade das französische Musiktheater,
findet sie, eröffne die ungeahntesten
Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten.
Das möchte sie. Als Kind hat Anna Bonitatibus
mit Klavierunterricht angefangen,
erst vor wenigen Tagen habe ihre Mutter ihr
Fotos gezeigt, auf denen sie als Vierjährige
am Klavier sitze. «Daran erinnere ich mich
gar nicht. Aber Musik war immer mein Ort.
In ihr kann ich meine Fragen stellen.» In der
Musik «wohne» sie: «Hier kann ich dem
Absoluten begegnen.»